Ja, ich gebe es zu: ich habe mich durch mein Leben gewurstelt, habe mich treiben lassen, habe weder Karriere noch Familie geplant, habe es einfach geschehen lassen. Dabei hat mir der Zufall (oder war es das Schicksal?) sehr geholfen. Im richtigen Moment ist das Richtige passiert, ging eine Türe auf, wurde ich eingeladen und habe mich in die beste Frau verliebt.
Im für mich optimalen Zeitpunkt kamen die Kinder und kamen wichtige berufliche Wendepunkte.
Mein Leben fühlt sich gut an, weil ich mich habe treiben lassen. Vorbereitung und Struktur, Planung und Organisation waren mir stets zuwider. Nichts kann mich mehr zur Verzweiflung bringen als eine akribische Vorbereitung auf etwas, was mit Sicherheit nicht so verläuft wie geplant. Nichts ärgert mich mehr als Menschen, die mir ein zu enges Korsett verpassen, die mir ihre Vorstellung von Struktur aufs Auge drücken wollen. Mein Freiheitsdrang geht so weit, dass ich mich nie habe anstellen lassen. Ich bin mein eigner Herr und Meister, ich folge stets meiner Intuition, meinem Bauchgefühl.
So viel zu meinem glorreichen Selbstbild. Aber stimmt das tatsächlich? Verhalte ich mich wie eine Stück Treibholz, gondle ich planlos durch die Jahre, durch mein Leben? Bin ich tatsächlich dieser freiheitsliebende Chaot, als den ich mich gerne sehen möchte? Leise Zweifel steigen in mir hoch. Wenn ich ein Seminar plane, dann mache ich das durchaus sehr genau, im Wissen darum, dass ich jederzeit von meinem roten Faden abweichen kann, ihn jedoch immer wieder finde. Wenn ich mein Büro anschaue: alles ist an seinem Platz, keine Unordnung, gar nichts was unmotiviert herumsteht. Mein Arbeitstisch: stets aufgeräumt. Ich brauche diese äussere Ordnung, sie beruhigt mich und lässt meinen übermütigen Gedanken genügend Spielraum. Meine Mitarbeiterin: eine ausgesprochen strukturierte, hervorragend organisierte Frau die nichts dem Zufall überlässt. Sie gibt mir die Sicherheit, die ich brauche, damit ich so unterwegs sein kann, wie mein Selbstbild es mir vorgaukelt: komplett im Flow, immer im Moment, der totale Improvisator.
Mein (vorläufiges) Fazit: keine Improvisation ohne Struktur. Die Struktur ist die Basis, damit ich mich möglichst frei bewegen kann. Im Laufe der Zeit habe ich die für mich richtige Mischung gefunden. Das ist auch die Anregung, die wir mit unserem Buch weitergeben wollen: Finde für dich deine richtige Balance, dein optimales Verhältnis von Struktur und Improvisation. Dies hilft nicht nur bei öffentlichen Auftritten, es hilft ganz grundsätzlich. Wenn dein persönlicher Mix stimmt, ist alles möglich, sogar ein Leben mit einem leicht verzerrten Selbstbild.
Foto von Brett Jordan